Werke

Wolkenatlas (2022) for large orchestra divided into three groups

EDIZIONI SUVINI ZERBONI MILANO
AUDIO
SCORE

3.3.3.3. - 4.3.3.1. - Tp. - 4 Perc. - Ar. - Pf. e Cel. [1 es.] - A.: 14.12.10.8.6.

Commissioned by Südwestrundfunk for the Donaueschinger Musiktage 2022

Bas Wiegers|Conductor

SWR Symphony Orchestra

World Premiere : 14.10. 2022 during the Donaueschinger Musiktage 2022

Duration : approx. 14 Minutes

 
 

Malika Kishino
Wolkenatlas
für großes Orchester, in drei Gruppen geteilt (2022)
Kompositionsauftrag des Südwestrundfunk
Wie viele Sterne gibt es? und wie viele Wolken? – ja, das sind typische Kinderfragen und die meisten dieser Fragen sind faszinierend, denn je tiefer man darüber nachdenkt, desto merkwürdiger wird die Sache.
Es war Norbert Wiener (1894-1964), der geniale Mathematiker, Gründervater der "Kybernetik" – und heute halbvergessen, obwohl seine Erkenntnisse in fast allen Regelkreisen unseres täglichen Lebens stecken – der sein bahnbrechendes Buch "Cybernetics" von 1948 (deutsch: "Kybernetik", 1968) mit einem deutschsprachigen Volkslied eröffnete. Jeder kann es innerlich mitsummen – und es ist von überraschender Tiefe:
"Weißt du, wie viel Sterne stehen
An dem blauen Himmelszelt?
Weißt du, wie viel Wolken gehen
Weithin über alle Welt?
Gott der Herr hat sie gezählet
Daß ihm auch nicht eines fehlet
An der ganzen großen Zahl."
"Gott der Herr" – diesen können wir an dieser Stelle umstandslos mit "die Astronomen" und "die Meterologen" ersetzen, ohne an dem Gesagten etwas zu verfälschen oder zu verändern, denn die Fragen bleiben die gleichen und der Wille sie zu zählen
Ja, wieviele Sterne gibt es denn? Die Herren Astronomen haben darauf Antworten. Mit dem unbewaffneten Auge sind grob geschätzt gut 6500 Sterne bei klarer Sicht sichtbar. Mit Teleskopen auf der Erde und im Weltraum deutlich mehr. Und in der Hochrechnung auf den Kosmos gleich gigantisch viel mehr. Aktuell ist "Gaia DR3" mit 1,8 Milliarden Objekten der umfangreichste Katalog, aber es geht ja unablässig weiter, bis wohl auch der letzte der geschätzten 10 hoch 24 Sterne des Universums erfasst sein wird…
Es bleibt dabei: grundsätzlich alle Sterne sind zählbar. Und dass sich auch Komponisten von den Sternen angezogen fühlten.
Norbert Wiener sah eine Polarität zwischen den zählbaren Sachen (grob vereinfacht gesagt: er bezieht sich auf die klassische Mechanik, Newton und die Folgen, alles hat seinen Ort und seine Zeit, seine Materie und seine berechenbare Dynamik) und den nur prozesshaft erkennbaren Objekten: z.B. Wolken!
Und damit gelangen wir nun endlich zu dem, was mich beschäftigt hat: nämlich einen "Wolkenatlas" zu komponieren. Nicht mit Graphiken oder Positionstabellen oder mit wissenschaftlichen Mitteln – sondern durch Musik.
Musik ist hervorragend dazu geeignet, alle mögliche Übergänge von "ungreifbaren" Zuständen darzustellen. Weil sie über so viele Zwischentöne verfügt, über so viele Nuancen, über all die Dynamiken, Entwicklungen etc. Wolken verändern sich ständig und treten in einer unendlichen Vielfalt von Formen auf: als Sardinenwolken, schuppige Wolken, gesprenkelte Wolken, faltige Wolken, pockennarbige Wolken, Blasenwolken, glitzernde Wolken, streifende Wolken...
Auch für Wolken gibt es einen Atlas, den "Internationalen Wolkenatlas", der 27 verschiedene Wolkenarten in zehn Haupttypen klassifiziert, die in drei Höhenstufen unterteilt sind: niedrige Wolken (Stratus), mittlere Wolken (Altocumulus) und hohe Wolken (Cirrus).
In meinem Stück "Wolkenatlas" versuche ich, die unendliche Vielfalt von Formen, Farben (die riesige Palette zwischen weiß und grau) und deren Wandelbarkeit durch Klänge darzustellen. Das Orchester, das auf der Bühne bleibt, ist in drei Gruppen aufgeteilt und repräsentiert: Stratus (niedrige Wolken), Altocumulus (mittlere Wolken) und Cirrus (hohe Wolken) – jede Gruppe hat eine spezifische Klanglichkeit und darüber hinaus auch eine eigene Tempoebene, einen eigenen Zeitverlauf und ihre eigene Essenz, Richtung, Form, Gestik. Und ihre spezifische Höhe.
Die Schichten fließen zwischen Ordnung und Chaos, manchmal überlappend, oft getrennt von einander… – mehr wird wohl nicht gesagt werden müssen, man kann es hören.
Die Idee, einen eigenen Wolkenatlas durch Klänge zu schaffen, hat mich sehr fasziniert. Eines war mir dabei klar: es handelt sich um ein Musikwerk – klanglich geformte Materie –, nicht um ein wissenschaftliches Konzept. Und meine Musik unterliegt Kräften, die samt und sonders im Klanglichen liegen. Ich kann nicht behaupten, darüber frei verfügen zu können, denn, einmal freigesetzt, entwickeln die Klänge ein eigenes Leben, folgen ihren eigenen Trieben – aber wir "verständigen" uns wo es hingehen soll. Ich forme das Stück – und lerne von ihm.
Noch ein Gedanke: Wolken sind Chiffren der Vergänglichkeit. Aber was wären wir ohne sie, ohne die Wolken?
Malika Kishino (Köln, 25.06.2022)