Chant (2015)
für gemischten Chor und Orchester
EDIZIONI SUVINI ZERBONI-MILANO
AUDIO
SCORE
Auftragswerk der Philharmonie Essen, gefördert vom Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen.
Urauffürung am 23. Oktober 2015 in Philharmonie Essen im Rahmen des Festivals “NOW!
ChorWerk Ruhr
Bochumer Symphoniker
Dirigent : Florian Helgath
Wenn ich an menschlichen Gesang denke, gibt es eine starke Erinnerung, die mich stets wieder ereilt… In meiner Kindheit hörte ich oft (in dem Tempel, in dem ich aufwuchs) die Rezitation buddhistischer Sutra. Sie kamen keineswegs nur von Priestern, sondern oft auch von den alten Frauen der Gemeinde, die zusammenkamen und gemeinschaftlich die Sutren sangen. Da gab es immer diese spezifischen, kleinen Abweichungen in Tempo und Intonation, wenn sie zusammen sangen… Natürlich war es dieselbe Rezitation – aber jede Stimme war doch hörbar individuell. Ein „Spektrum“ des gemeinschaftlichen Gesangs, bestehend aus vielen Einzelstimmen.
Die Rezitation einer Sutra ist ein Gebet (und ist keine gesangliche Darbietung) – aber ich verstand, dass beten und singen eine gemeinsame Wurzel hat.
Unsere Stimme ist wohl das ausdrucksvollste Medium, über das wir Menschen verfügen.
Meinem Stück „Chant“ habe ich ein Gedicht von Rabindranath Tagore [„Fruits gathering No. LXXIX“, original in Bengali geschrieben, von ihm selbst ins Englische übersetzt] zugrundegelegt.
Mich hatte seine Idee von „Angstfreiheit“ begeistert. Ein ‚Gebet‘ angesichts der eigenen Angst . Was mich faszinierte, war die Verbindung von Angst und Atem. Sie ist direkt hörbar. Angst beeinflusst Atem, schränkt Stimme ein. Und umgekehrt, freier Fluss des Atems und der Stimme lassen ein freieres Leben hörbar werden. Eine geradezu spektrale Angelegenheit zwischen Angst und Freiheit, zwischen Murmeln und Freier Rede.
Daher fand ich es herausfordernd, die Zeilen von Tagores Gedicht nicht etwa zu vertonen, sondern in „Klang“, wie die Vibration von Stimmen, die Tiefe des Ausdrucks, die Wärme oder Kälte der Aussage umzusetzen.
Manchmal wiederholen die Stimmen, was sie sagen, für sich selbst – und bilden Schichten und Wirbel mit den Gesängen der Anderen. Erst das Gesamte zeigt die vielen kleinen und interferierenden Wirbel als Bild einer übergeordneten Energieströmung.
Die Idee solcher zahllosen Mikrokosmen (der einzelnen Stimmen), die ein übergeordnetes Gesamt ergeben, beschäftigte mich während der gesamten Arbeit an dem Stück. Jede einzelne Note trägt ihren Part zum Gesamt bei und bestimmt die unikate Mixtur des Gesamtspektrums.
Das Bild – vom irdischen Murmeln zum dezidierten Text mit klar gefasster Aussage – erinnert mich an den Prozess des Aufstiegs aus den Fundamentaltönen durch all die Metamorphosen hinan zu den Partialtönen, die schließlich den Reichtum des Gesamtklangs bestimmen.
Von dem basalen Wunsch nach Angstloskeit bis zur Ahnung von Freiheit – dies ist keinewegs eine Angelegenheit von Religiosität. Es ist Ausdruck menschlichen Willens und Wünschens.